Der Verlust des Abenteuer-Gefühls in Pokémon-Spielwelten – SPECIAL
In wenigen Monaten erscheinen Pokémon: Karmesin & Purpur. Die neuen Editionen setzen wie schon Pokémon-Legenden: Arceus auf eine Open World – aber schon lange lassen die Spielwelten der beliebten Reihe alte Qualitäten vermissen.
Seit einigen Pokémon-Generationen durchlebt die Reihe eine große Anzahl an Veränderungen. Während Game Freak Stück für Stück Neuerungen in die Erfolgsreihe einbaut, gibt es auch Inhalte, die von Spiel zu Spiel vernachlässigt werden. Dazu zählt auch der Umgang mit den eigenen Spielwelten. Ein Faktor, der nicht nur in der Anfangszeit zu den großen Stärken der Reihe gehörte.
Alte Stärken
Die japanische Rollenspielreihe schaffte es schon zu Game-Boy-Zeiten eine umfangreiche und gleichzeitig vielseitige Spielwelt auf den kleinen Bildschirm zu zaubern. Dafür sorgen offenere Gebiete wie Städte, leicht verzweigte und mit optionalen Inhalten gespickte Pokémon-Routen sowie Dungeons mit mehreren Ebenen wie Höhlen oder spezielle Einrichtungen. All diese Spielabschnitte besitzen eine unterschiedliche Perspektive auf das Thema Erkundung: In Städten durchsuchen wir Gebäude und reden mit Nicht-Spieler-Figuren, auf den Routen kommen versteckte Maschinen, kurz VMs, zum Einsatz, um durch leichtes Backtracking neue Gebiete zu erschließen und in den Dungeons existieren zum Teil richtige Rätselmechaniken. Überall gibt es dann natürlich noch die fangbaren Pokémon selbst, die als einzigartige Form der Belohnung das gesamte Spiel zusammenhalten. Ein neues Pokémon zu entdecken ist immer ein Highlight, besonders wenn sich diese an besonderen Orten aufhalten, die wir erst einmal erreichen müssen. Das Sahnehäubchen sind dann natürlich die versteckten legendären Pokémon.
Bis zur Nintendo-DS-und -3DS-Zeit versprühten die Spielumgebungen eine eigene Magie und Abenteuerstimmung. So ist das tolle Postgame von Pokémon: Rubin & Saphirs Hoenn-Region zurückzuführen auf natürliche in die Welt eingebundene Rätsel und Geheimnisse. Über das breite Spektrum an Inhalten und Möglichkeiten der zweiten Generation mit zwei erkundbaren Regionen müssen wir gar nicht erst reden.
Erkundung Adieu
Was all diese Aspekte auch gemeinsam haben: Ab einem gewissen Zeitpunkt wurden all diese Elemente ersatzlos reduziert. Die Folge war eine absurde Linearität und Einfältigkeit der Spielumgebungen, die vor allem in Pokémon: Sonne & Mond sowie Pokémon: Schwert & Schild für Müdigkeit sorgen. Der neue Ansatz von Game Freak ist der komplette Gegenentwurf und heißt Open World wie sie in Pokémon-Legenden: Arceus ihren Anfang nahm und in naher Zukunft mit Pokémon: Karmesin & Purpur erst einmal weitergeführt wird. Schon Pokémon-Legenden zeigt mit seinen online-rollenspielartigen Aspekten sowie der Rätsel- und Leveldesign-Armut, dass die alten Spielwelten keinen Mittelweg zwischen linear und offen beschrieben haben, sondern einer eigenen Designphilosophie vertrauten, die in Pokémon auch weiterhin der Vergangenheit angehören wird.
Die Entmündigung des Spielers
Die Veränderung der Spielwelt ist aber nur ein Weg von Game Freak, jeglicher Erkundung und Abenteuer den SInn und Spaß zu nehmen. Wie viele Spielereihen sind auch die Pokémon-Spiele im letzten Jahrzehnt von einer unglaublichen Redseligkeit befallen worden, die nicht nur einen einzigen negativen Effekt mit sich führen. Immer mehr Figuren sahen sich verpflichtet, zu jedem erdenklichen Zeitpunkt den Spielfluss durch einen Wasserfall an Textboxen zu unterbrechen – dabei aber so gut wie nichts zu erzählen. Verlassen wir eine Stadt, erreichen ein neues Gebiet, stehen kurz vor dem Erreichen eines Ziels oder einfach nur mitten auf einer Route: Game Freak hat dafür gesorgt, dass stets ein Nicht-Spieler-Charakter parat steht, um uninteressante und unwichtige Informationen zu verbreiten. Ein kleiner Teil dieser Textmengen ist im Story-Kontext in Ordnung, der größte Teil gehört aber zum unerträglichen Handholding. Somit sagt uns das Spiel immer schon vorher, wo es lang geht, was zu tun ist oder mit wem wir als nächstes sprechen müssen, bevor wir nur die Chance haben, es selbst herauszufinden. Erkundung wird im Keim erstickt. Selbst in kompakten Gebieten wie in Pokémon: Sonne & Mond wird Game Freak mit anlaufenden Nicht-Spieler-Charakteren sicherstellen, dass wir dem einzig verfügbaren Weg auch weiterhin willenlos folgen.
Alte Schwächen
Das hat auch nichts mit dem Gedanken zu tun, dass Pokémon weiterhin für junge Leute zugänglich sein muss. Auch Kinder und junge Erwachsene verdienen gutes Design und vom Spiel ernst genommen zu werden. Hierzu gehören auch die starren und altmodischen Tutorial-Passagen, in denen von Generation zu Generation mehr Zeit für das Erklären von simpelsten Grundlagen aufgebracht wird. Etwas selbst herauszufinden, einfach auszuprobieren und anschließend eine Art von Belohnungsgefühl zu erhalten, ist absolut tabu.
Dazu werden die seit jeher schwachen Pokémon-Storys durch die Textmengen immer weiter aufgeblasen, wobei eine Notwendigkeit von großen Geschichten in Pokémon nie existiert hat. Pokémon-Legenden: Arceus hatte keinen Story-Fokus und hielt sich positiverweise auch etwas zurück – bleibt die Frage, ob das im zweifelsfrei storylastigerem Pokémon: Karmesin & Purpur ebenfalls der Fall sein wird.
Pokémon-Legenden hat keine offene Welt, sondern nur mehrere in sich größere, aber abgeschlossene Areale. Karmesin und Purpur sind die ersten Pokémon-Open-World-Spiele.