Amnesie: Chronischer Gedächtnisverlust als Erzählelement – SPECIAL

Auch wenn das Gedächtnis mit dem Alter bestimmt nicht mehr besser wird, werden viele Videospielhelden schon in ihren jungen Jahren von Amnesie geplagt. Seit jeher greifen Story-Autoren von Spielen auf dieses Erzählelement zurück, allerdings aus unterschiedlichen Gründen.


Nicht nur in Videospielen ist die Amnesie ein beliebtes Element, das immer wieder gerne aufgegriffen wird. Viele Spielfiguren sind von Beginn anvom mysteriösen Gedächtnisverlust befallen. Erzählerisch hat dies den Vorteil, dass sich sowohl die Spielfigur genauso wie der Spieler am Anfang einer Geschichte auf demselben niedrigen Informationsstand befinden. Ehemalig bekannte Gesichter, die gesamte Spielwelt und Spielsysteme sind also für den Protagonisten ebenso fremd wie für den Spieler, die anschließende Kommunikation zwischen Spiel und Spieler und Spiel und Spielfigur ist damit dieselbe. Damit erarbeiten sich erneute Figureneinführungen sowie eigentlich simpelste Tutorials ihre Existenzberechtigung.

Digitale Amnesie

Spielerisch überträgt sich die Amnesie gerne auch auf das Fähigkeitenrepertoire einer Spielfigur, dessen Kampf-Erfahrungen durch einen Gedächtnisverlust gerne ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen werden. Auch hier starten wir von Null – oder eben auf dem ersten Level. Denselben Effekt auf einer etwas andere Art und Weise erzielt und zelebriert die Metroid-Reihe von Nintendo seit vielen Jahren. In den meisten Teilen startet Samus Aran mit ihrem funktionellen Suit, der dann schnell nach Beginn des Spiels durch irgendein Unglück all seinen Funktionen beraubt wird – der Anzug „vergisst“ diese auf Software-Ebene. Im Laufe des Spieles wird dieser wieder aufgerüstet, womit die Spielwelt und die Herausforderung an den Spieler nur Stück für Stück komplexer werden können. Natürlich erhält jedes neue Update auch wieder seine neue Einführung.

Erinnerungs- und Charakterlos

Während solche Tricks im Design von Spielen ihre eindeutigen Vorteile haben, sind identitätslose Figuren allerdings meist auch ziemlich profillos und langweilig. Ein Charakter als unbeschriebenes Blatt dient oft als Projektionsfläche für den Spieler, in den dieser sich besser hineinversetzen soll. Dem gegenüber stehen spannende Figuren, mit ausgebauten Persönlichkeiten und Motivationen, die leider immer noch zur Nische gehören.

Das deutsche Entwicklerstudio Piranha Bytes plagt seinen Helden im Klassiker Gothic nicht nur mit Amnesie, sondern direkt noch mit der Namenslosigkeit – der perfekte Start, um alles andere abseits der Spielfigur spannender zu finden. In diesem Fall macht das Sinn, so liegt in diesem Open-World-Spiel der Fokus der Spielerfahrung im Kennenlernen und Entdecken der Spielwelt und deren Bewohner. Aber auch zu der Hochzeit der Final-Fantasy-Reihe zelebrierte Square dieses erzählerische Element, so leiden zum Beispiel Terra in Final Fantasy VI, Cloud in Final Fatasy VII und gleich mehrere Figuren aus Final Fantasy VIII an unterschiedlich stark ausgeprägten Formen der Amnesie.

Der Plot-Twist aus dem Nichts

Gerne werden Erinnerungsfragmente im Laufe eines Abenteuers erst Stück nur für Stück an die Oberfläche des Bewusstseins getrieben und erst zum Finale stellt sich heraus, dass die Figuren oder Plot-Punkte vielleicht gar nicht so unbekannt sind, wie anfänglich gedacht. Das Aussparen wichtiger Informationen bis zum Schluss wertet das Finale eines wendungsreichen Spiels automatisch auf – wenn auch auf eine eher billige Art und Weise. Ein positives Beispiel bietet Silent Hill 2, auch hier kommt erst im Finale ans Tageslicht, dass die Hauptfigur James die eine oder andere Handlung seinerseits schlichtweg verdrängt und vergessen hat. Im psychologischen Kontext der Geschichte ergibt das allerdings Sinn und während des gesamten Spiels gibt es genug Andeutungen und Hinweise auf das Ende, das dann – ohne zu viel zu spoilern – auch seine Wirkung beim Spieler erzielt.

Die Sicherheit der Erinnerungen

Andere Horror-Spiele setzen ebenfalls auf die Amnesie und generieren aus der Unwissenheit und Hilflosigkeit der Figuren Angst und Unsicherheit bei Spielfigur und Spieler in gleichen Maßen. Während Amnesia: The Dark Descent und Haunting Ground dieses Element zum Beispiel auf klassische Weise zur Unterstützung der Atmosphäre nutzt, geht Fatal Frame: Mask of the Lunar Eclipse noch einen Schritt weiter und spinnt die Frage nach den verlorenen Erinnerungen gut in den Story-Rahmen rund um eine mysteriöse Krankheit und unheilvollen Ritualen ein.

Wie in diesem Fall besteht ein Großteil der Charaktermotivation von Amnesie geplagten Figuren oft darin, ihre unbekannte Vergangenheit aufzudecken. In der Regel hilft Amnesie den Entwicklern aber viel mehr auf der Gamedesign-Ebene um Regelwerke einzuführen und den Spieler besser zu leiten, womit sich das Erzählelement auch klar von anderen Medien wie dem Buch oder Film abhebt. Geschichtlich wird sie allerdings oft als Ausweg für eher uninteressante und wortwörtliche „leere“ Charaktere verwendet, hier und da bietet sie aber die Grundlage für eine interessante Handlung.

Geschrieben von Jonas Maier