Liminal Spaces: Unheimliche Schwellenräume in Videospielen – SPECIAL

Der Begriff der „Liminal Spaces“ erfreut sich im Internet seit nunmehr über zwei Jahren wachsender Beliebtheit. Die ungewöhnliche, teilweise traumähnliche und surreale Ästhetik von menschenleeren Orten hat sich auch in der Videospielwelt etabliert und sorgt für eine eigenartige, teilweise verstörende Atmosphäre. In diesem Special möchten wir diesem Begriff auf den Grund gehen, genauso wie der Tatsache, warum es aufgrund der Liminal Spaces auch in Spielen unheimlich werden kann, die nicht zum Horror-Genre gehören.


Als Super Mario 64 im Jahr 1996 auf dem Nintendo 64 erschien, war es eine technische Sensation. Marios erster Ausflug in die dritte Dimension bot eine frei begehbare 3D-Welt und war ein Wegbereiter der modernen 3D-Spiele. Das eigentlich Mario-typisch fröhliche Spiel kann jedoch einige etwas verstörende Elemente nicht verleugnen und wird heute von einigen Fans als unheimlich beschrieben. So ranken sich schon seit einigen Jahren eine ganze Reihe von Creepypastas, also Internet-Gruselgeschichten und Mythen um das Spiel. Von vermeintlich personalisierten Modulen bis hin zu geisterhaften Wario-Erscheinungen und unerklärlichen Phänomenen ist so ziemlich alles dabei, was das Herz eines jeden Internet-Horror-Fans höher schlagen lässt. Daneben berichten aber einige Spieler auch von einem allgemeinen unheimlichen Gefühl, dass sie beim Spielen des Jump-’n’-Runs befällt, wenn sie beispielsweise durch die verlassenen, leeren Gänge von Prinzessin Peachs Schloss laufen oder die karg eingerichteten Räume betreten. Schuld daran ist ein Phänomen, das in jüngerer Zeit mit dem Begriff „Liminal Space“ bezeichnet wird. Diesem möchten wir hier auf den Grund gehen.

Liminal Spaces: Von Einsamkeit, Nostalgie und einer anderen Realität

Wörtlich übersetzt bedeutet „Liminal Space“ etwa soviel wie „Schwellenraum“ oder auch „liminaler Raum“. Er beschreibt grob gesagt einen Raum oder Ort, der sich irgendwie „anders“ anfühlt, in dem zum Beispiel durch das Zusammenspiel von Architektur und Lichtverhältnissen eine traumartige, surreale Atmosphäre geschaffen wird. Oder ein Ort, der sonst belebt und voller Menschen ist, aber nun durch deren Abwesenheit still und leer erscheint, wie beispielsweise verlassene Büroräume oder eine Schule in der Nacht. Der Ursprung dieser speziellen Ästhetik wird oft im Jahr 2020 verordnet, und hängt dabei mit Sicherheit auch mit den Lockdowns während der Corona-Pandemie zusammen, durch die viele sonst belebte öffentliche Orte nun leer und verlassen waren. Seitdem hat sich der Begriff rasant verbreitet. Wer einmal „Liminal Spaces“ in der Suchmaschine seiner Wahl eingibt, bekommt sofort dutzende Fotos mit dieser Ästhetik vorgelegt.

Der Begriff „Liminalität“ stammt ursprünglich aus der Ethnologie und wird dort nach Victor Turner im Bezug auf Übergangsriten verwendet. Also beispielsweise Initiationsriten von Naturvölkern, welche den Übergang von einer Lebensphase in eine andere markieren. Die Liminalität bildet dabei eine sogenannte Schwellenphase, eine Art Schwebezustand, wenn der Mensch noch nicht das entsprechende Ritual abgeschlossen hat, aber auch nicht mehr seinen vorherigen Zustand besitzt. Im Fall eines klassischen Initiationsritus ist der Mensch während der liminalen Phase kein Kind mehr, aber auch noch kein Erwachsener, da er das Ritual noch nicht abgeschlossen hat. In unserer westlichen Welt könnte beispielsweise die Zeit der Pubertät als eine liminale Phase angesehen werden, der Übergang vom Studium in einen Beruf oder auch die Zeit zwischen zwei Jobs.

Menschen in liminalen Phasen sind also quasi aus der bestehenden sozialen Ordnung gelöst und befinden sich in einem Schwellenzustand. Das gleiche gilt auch für die „Liminal Spaces“. Diese sind nämlich auch Räume, die eine Schwelle markieren, eine Art Übergangsort, der sich zwischen zwei Orten befindet. Gemeint sind damit beispielsweise Parkplätze, Treppenhäuser, Einkaufszentren, Schulkorridore oder Bahnsteige. Diese sind in der Liminal-Space-Ästhetik immer verlassen und leer und zeigen diese Orte zu Zeiten, an denen sich typischerweise keine Menschenseele dort befindet. Der Schulkorridor um zwölf Uhr nachts, das Einkaufzentrum lange nach Ladenschluss oder das leere Büro nach Feierabend. Dadurch wirken diese Orte der Realität entrückt und bekommen durch teilweise diffuse Lichtverhältnisse eine surreale Note. Sie fühlen sich wie eingefroren in der Zeit an, sind gleichzeitig unheimlich, verstörend, aber können auch seltsame, fast nostalgische Gefühle wecken, wenn wir beispielsweise das Foto eines menschenleeren Spielzeugladens oder eines Spielplatzes in der Nacht betrachten. Zusätzlich interessant ist dabei, dass Liminal Spaces immer menschengemacht sind, obwohl sie menschenleer sind. Die Bilder zeigen fast ausnahmslos oft surreal wirkende Architektur, die Natur ist auf den meisten Liminal-Space-Fotos nicht zu sehen. Wie bereits eingangs erwähnt findet man bei der Internet-Suche nach dem Begriff „Liminal Spaces“ dutzende solche Fotos. Macht doch einmal den Test und schaut Euch einige dieser Fotos an und lasst sie auf Euch wirken. Schreibt uns gerne in den Kommentaren, wie Ihr die Liminal Spaces erlebt.

Liminal Spaces in Super Mario 64

Kommen wir nun zurück zu unserem eigentlichen Thema, nämlich den Liminal Spaces in Videospielen. Wie eingangs erwähnt wird oft Super Mario 64 als Beispiel herangezogen, wenn es um solche unheimlichen Schwellenräume geht. Das Schloss von Prinzessin Peach wirkt verlassen und leer. Mario rennt durch lange, karge Gänge und leere Räume. Lediglich einige wenige Toads, die uns unterwegs begegnen zeugen von etwas Leben. Eine ganze Reihe von Spielern fühlen beim Spielen von Super Mario 64 tatsächlich die für die Liminal Spaces typischen Emotionen wie Einsamkeit oder ein generelles Unbehagen, das durch die Atmosphäre verursacht wird. Interessanterweise sind die Liminal Spaces in Super Mario 64 auch durch die heutzutage veraltete Technik bedingt. Die langen, detailarmen Gänge und kargen Räume sind nicht zuletzt den begrenzten Speichermöglichkeiten von Nintendos 64-Bit-Konsole geschuldet, die hier wahrscheinlich eher unbeabsichtigt Liminal Spaces erzeugt.

Auch die einzelnen Level des Spiels warten teilweise mit unheimlichen Schwellenräumen auf. Besonders häufig wird in diesem Zusammenhang das elfte Level des Spiels, Atlantis Aquaria, diskutiert, welches aufgrund seiner seltsamen Atmosphäre und vergleichsweise bedrohlichen Sound-Untermalung mit negativen Emotionen und einer negativen Aura assoziiert wird. Diese Atmosphäre entsteht unter anderem durch die sich augenscheinlich unter der Wasseroberfläche befindenden, versunkenen und verlassenen Häuser. Ganz besonders aber sicherlich durch den Hintergrund bzw. die Skybox des Levels, welche aus einem unscharfen bearbeiteten Foto besteht. Dieses hat im Internet für sehr viel Diskussionsstoff gesorgt, konnte aber von eifrigen Fans als ein Foto der Stadt Schibam im Jemen identifiziert werden. Das Foto wurde so bearbeitet, dass es wirkt als befände sich die ganze Stadt auf dem Meeresgrund. Die Häuser auf dem Foto wirken tot und verlassen und schaffen so tatsächlich eine ganz eigenartige, schwer zu beschreibende Atmosphäre.

Von unendlichen Büroräumen und seltsamen Perspektiven


Abseits von Super Mario 64 finden wir Liminal Spaces natürlich auch in vielen unterschiedlichen Videospielen. Eine ganze Reihe davon existierten dabei schon eine ganze Weile, bevor der Begriff der Liminal Spaces überhaupt etabliert wurde, lassen sich aber rückwirkend unzweifelhaft in diese Ästhetik einordnen. Im Folgenden sollen drei besondere Spiele vorgestellt werden, bei denen die Liminal-Space-Ästhetik besonders ausgeprägt ist.

Im 2019 erschienenen, herausragenden Action-Adventure Control von Remedy Entertainment, das 2020 auch in einer Cloud-Fassung für die Nintendo Switch erschien, erkunden wir in der Rolle der übernatürlich begabten Jesse Faden einen gigantischen Bürokomplex auf der Suche nach unserem Bruder. Das im Brutalismus-Architekturstil gehaltene Gebäude, das auf den Namen „The Oldest House“ hört, ist der Sitz des namensgebenden Federal Bureau of Control, welches als geheime US-Regierungsbehörde seltsame übernatürliche Phänomene erforscht. Das Oldest House hat durch den Architekturstil und den dafür typischen, wuchtigen Einsatz von Beton, Stahl und Glas, gepaart mit der Inneneinrichtung im Retro-Stil seinen ganz eigenen Look, der aber nie eintönig wird. Gemeinsam mit Jesse durchstreifen wir die endlosen, verlassenen Büroräume und Abteilungen der Behörde. Bis auf die zahlreichen Gegner, welche alle von einem übernatürlichen Phänomen, welches nur das „Zischen“ genannt wird, besessen sind, treffen wir lediglich auf eine Handvoll von NPCs. Die meiste Zeit sind wir in den Hallen des Oldest House alleine unterwegs. Dies sorgt für die Liminal Spaces typische Atmosphäre, was durch eine ganze Reihe von surrealen Szenarien verstärkt wird. Auf dem obigen Screenshot könnt Ihr sehen, dass auch hier die Lichtverhältnisse geschickt eingesetzt werden, um eine verstörende, traumartige Atmosphäre zu schaffen, die uns mitunter schaudern lässt, obwohl Control eigentlich nicht dem Horror-Genre zugeordnet werden kann und dieses nur manchmal streift.

Durch unendlich scheinende Bürokomplexe wandern wir auch in dem ursprünglich im Jahr 2013 für den PC erschienenen Adventure The Stanley Parable, das 2022 als The Stanley Parable Ultra Deluxe unter anderem für die Switch umgesetzt wurde. Hier übernehmen wir die Rolle des namensgebenden Protagonisten Stanley, der in einem Büro arbeitet und eines Tages merkt, dass sämtliche Kollegen verschwunden sind. In der Egoperspektive erkunden wir das bizarre, surreale Bürogebäude, wobei jede unserer Aktionen von einer männlichen Erzählerstimme kommentiert wird. Zwar hat das Spiel eine sehr sarkastische Note und die Kommentare des Erzählers sind oft wirklich witzig, jedoch beschleicht uns bei der Erkundung der schier endlos langen, verlassenen Gänge mit der Zeit ein sehr ungutes Gefühl. Das Spiel arbeitet genau wie Control geschickt mit der Ästhetik der Liminal Spaces, um eine an und für sich vertraute und alltägliche Umgebung wie einen Bürokomplex durch die Leere und die Architektur unheimlich und bedrückend erscheinen zu lassen.

Das im Jahr 2019 erschienene, surreale Puzzlespiel Superliminal von Pillow Castle, das 2020 auch für die Nintendo Switch erschien, hat die Liminal Spaces sogar schon im Titel. In diesem Spiel erleben wir einen bizarren Traum, nachdem wir um drei Uhr morgens vor dem Fernseher eingeschlafen sind, während wir einen Werbespot zu einem Somnasculpt genannten Traumtherapieprogramm eines gewissen Dr. Pierce im Fernsehen gesehen haben. In der Egoperspektive erkunden wir nun unsere eigene Traumwelt und lösen immer komplexere Puzzles, welche auf optischen Täuschungen und erzwungenen Perspektiven basieren. Auch in diesem Spiel führt unsere Reise durch lange, menschenleere Gänge und surreale Räume. Wir befinden uns mal in einer Art Klinik, dann in den Fluren eines menschenleeren Hotels oder auf einem ausgestorben wirkenden Filmset. Alle diese Szenarien wirken vertraut, bekommen aber durch die bizarren Rätsel und Situationen eine ganz eigene Atmosphäre, die uns in unsere Traumwelt eintauchen lässt.

Neben diesen Beispielen gibt es natürlich noch unzählige weitere Spiele, welche die Liminal Spaces effektiv nutzen, um eine ganz bestimmte Atmosphäre zu erzeugen. Liminal Spaces finden sich rückwirkend betrachtet beispielsweise auch in Spielen wie Mirror’s Edge (2008), NaissancE (2019) oder The Backrooms Game (2019), welche allesamt auf dem PC spielbar sind. Insgesamt zeigen Liminal Spaces sehr anschaulich, dass es nicht immer nur groteske Monster oder literweise Blut benötigt, um eine verstörende, schaurige Atmosphäre zu erzeugen. Viele Horror-Spiele werden mit Sicherheit auch in Zukunft diese ganz eigene Ästhetik nutzen, um uns auf eine subtile Art gruseln zu lassen.

Geschrieben von Markus Schoenenborn