Rollentausch: Vom Antagonisten zum Protagonisten – SPECIAL
Antagonisten sind das Dorn im Auge eines jeden Protagonisten in einem Videospiel. Sie werden oft bis zum bitteren Ende bekämpft, sind nur schwer zu fassen oder gar zu besiegen. Dennoch hat es manch einstiger Bösewicht mit reichlich Sympathie erfolgreich geschafft, die Seiten zu wechseln und den einen oder anderen unvergesslichen Moment zu bescheren.
Eines der wohl bekanntesten Beispiele dürfte der Affe Donkey Kong aus dem gleichnamigen Arcade-Spiel aus dem Jahr 1981 sein. In diesem Jump ’n’ Run entführt der Gorilla Pauline, die Freundin des Helden, der damals noch schlicht auf den Namen Jumpman hörte und kurz darauf in Mario umbenannt wurde. Ziel des Spiels ist es, in drei sich wiederholenden Levels ein Gerüst zu erklimmen, über von Donkey Kong geworfene Fässer zu springen und anderen Gefahren wie Flammen auszuweichen. Am Ende des Spiels wird dem Primaten schließlich das Handwerk gelegt und Pauline aus seinen Fängen entrissen.
Was jedoch viele nicht wissen, ist, dass Mario im Jahr 1982 aus dem einstigen Sympathieträger kurzzeitig selbst der Fiesling wurde: In Donkey Kong Jr. übernimmt der Spieler die Rolle des titelgebenden und heutzutage selbst von Nintendo fast schon vergessenen Nachwuchses und muss sich gegen Mario, der Tiere wie Vögel oder Krokodile auf den kleinen Charakter loslässt, zur Wehr setzen. Die Motivation im Kampf gegen den Klempner, der zu diesem Zeitpunkt sogar noch Zimmermann war, ist darin begründet, dass Mario Donkey Kong in einen Käfig eingesperrt hat. Lustig ist das Finale des recht kurzen Spiels, denn nachdem Donkey Kong Jr. seinen Vorfahren gerettet hat, will Mario nicht aufgeben und ihn mit einem Seil erneut einfangen. Mario bekommt von Donkey Kong zum Abschluss aber noch einen kräftigen Faustschlag spendiert. Amüsant!
Einmal Protagonist sein
In diesen beiden Spielen ist definitiv die langjährige Feindschaft zwischen Mario und Donkey Kong zu erkennen, die schließlich in der eigens dafür entwickelten Mario-vs.-Donkey-Kong-Reihe gipfelte, in der aber wiederum Mario und seine kleinen roboterhaften Mini-Marios zu den Helden auserkoren wurden und Donkey Kong als miesepetriger Antagonist auftritt. Der Gorilla ist aber nicht in allen Spielen dazu verdammt, die Rolle des Fieslings zu mimen. Zum Beispiel gibt er in dem im Oktober 1983 veröffentlichten Edutainment-Titel Donkey Kong Jr. Math nur die Vorgaben, welche Werte von seinem Schützling Donkey Kong Jr. errechnet werden sollen. Im Dezember 1983 wurde er hingegen von Schädlingsbekämpfer Stanley in Donkey Kong 3 wieder klassisch als Feind bekämpft.
Nachdem er im Juni 1994 in der stark erweiterten Fassung von Donkey Kong auf dem Game Boy noch ein weiteres Mal als Antagonist herhalten musste, wurde er im November 1994 neben seinem neuen Sidekick Diddy Kong erstmals zum Protagonisten in Donkey Kong Country auf dem Super Nintendo auserkoren. Als Bösewicht wurde niemand geringeres als das anthropomorphe Krokodil King K. Rool designt, das mit den krokodilartigen Kremlings den Bananenvorrat von Donkey Kongs Sippe gestohlen hat. Ein halbes Jahr später, im Juni 1995, wurden Donkey Kong und Diddy Kong auch auf dem Game Boy in Donkey Kong Land im Kampf gegen King K. Rool zu Helden.
Protagonist und Antagonist in einer Person
Mit dem Ruhm als Protagonist war es für Donkey Kong anschließend aber recht schnell vorbei. In diesem Zusammenhang muss zwangsläufig auf die mit jedem Serienteil größer werdende Kong-Familie eingegangen werden. Allein mit Cranky Kong, Funky Kong und Candy Kong gab es schon im ersten Ableger der Donkey-Kong-Country-Reihe neben Diddy Kong drei weitere Nebencharaktere. Nur ein Jahr nach dem ersten Seriendebüt, wurde im November 1995 Donkey Kong Country 2: Diddy’s Kong Quest veröffentlicht. Anstatt Donkey Kong in ein weiteres Abenteuer zu schicken, wurden dieses Mal Diddy Kong und Dixie Kong als Helden bestimmt. Gorilla Donkey Kong wurde hingegen die Opferrolle zugeschrieben und musste von Diddy Kong gerettet werden.
Daran änderte sich auch im dritten Serienteil, das im November 1996 veröffentlichte Donkey Kong Country 3: Dixie Kong’s Double Trouble!, nichts. Sogar Diddy Kong fiel der Protagonistenschere zum Opfer! Erst in Donkey Kong 64 von 1999 konnte Donkey Kong wieder die Hauptrolle ergattern, trotz stark angewachsenen Kong-Familie. In Rhythmusspielen wie Donkey Konga und Co änderte sich daran ebenso wenig wie in Donkey Kong Country Returns von 2010 und Donkey Kong Country: Tropical Freeze von 2014. Sein Image als Antagonist konnte Donkey Kong aber nie gänzlich ablegen, was insgesamt sieben bis 2016 veröffentlichte Ableger der Mario-vs.-Donkey-Kong-Reihe untermauern.
Kreative Ader eines Bösewichts
Eine bestimmte Ähnlichkeit ist bei einem ganz anderen Gegenspieler von Klempner Mario zu erkennen. Die Rede ist von Bowser, der seinen Erstauftritt in Super Mario Bros. von 1985 hat. In diesem Jump ’n’ Run – und in vielen weiteren Ablegern der Super-Mario-Reihe – entführt die anthropomorphe Schildkröte Prinzessin Peach, die in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren außerhalb Japans noch auf den Namen Toadstool hörte. Mario schreitet selbstverständlich zur Tat und will die Prinzessin aus den Klauen des Reptils retten, das sich Mario Feuer speiend, mit der einen oder anderen gewieften Sprungeinlage und dem Werfen von Hämmern in den Weg stellt. Aufgrund Marios früheren Berufs als Zimmermann sind die Hämmer in gewisser Weise schon ein wenig ironisch.
Ulkigerweise scheint Bowser in Super Mario Bros. seinen Kontrahenten noch nicht als sonderlich große Bedrohung einzuschätzen, da sein Bewegungsraster, vermutlich auch aufgrund der technischen Limitierung des NES, recht willkürlich erscheint und nur ein stets wiederkehrendes Hindernis am Ende jeder der acht Welten im Spiel darstellt. Erst in Super Mario Bros. 3 von 1988 agiert Bowser wesentlich intelligenter, spuckt im Endkampf Feuerbälle aus, die über den Boden flitzen und wenn Mario doch einmal zu weit entfernt ist, nutzt er einfach seine flotte Stampfattacke. Auch in den anderen Jump ’n’ Runs ist Bowsers kreativer Ader, Mario zu bekämpfen, keinerlei Grenzen gesetzt.
Ein Antagonist auf Abwegen
Während in den Hüpfspielen des Franchises Bowser an so gut wie keiner einzigen Stelle gesteuert werden kann und somit stets in der Rolle des Antagonisten verweilt, sieht es im Rahmen der Super-Mario-Rollenspiele ganz anders aus. Schon im von Square entwickelten Super Mario RPG: Legend of the Seven Stars aus dem Jahr 1996 müssen sich Mario und Bowser auf dem Super Nintendo im Kampf gegen Smithy und seine Gang verbünden, auch wenn die Eröffnungssequenz des Spiels schon damals nostalgisch ganz im Zeichen der bereits Mitte der 1990er-Jahre traditionellen Geschichte steht. Im rundenbasierten Kampf können Bowser Befehle gegeben werden, der diese dann durchweg lustigerweise brav befolgt und ausführt.
Dieser Sinneswandel dauerte allerdings nur kurz und erst 2004 war es in Paper Mario: Die Legende vom Äonentor auf dem GameCube wieder möglich, in die Haut des Schurken zu schlüpfen. Abwechselnd wird die Geschichte hier aus der Sicht von Mario, Peach und Bowser geschildert. Auf der Suche nach den Sternjuwelen darf in der Rolle von Bowser in zweidimensionalen Levels, die vage an die ersten Spielabschnitte von Super Mario Bros. angelehnt sind, aufgrund seines Gewichts leicht gesprungen und Gegner angekokelt werden. In Super Paper Mario von 2007 für die Wii ist es ab einem bestimmten Punkt im Spiel ebenfalls möglich, in Bowser zu steuern, um für den Schutz seiner hier über alles geliebten Peach zu sorgen.
Das fünfte Rad am Wagen
Im Jahr 2009 schlüpfte Bowser dann tatsächlich zum allerletzten Mal in die Rolle des Protagonisten, wenn auch recht unfreiwillig. Im Nintendo-DS-Rollenspiel Mario & Luigi: Abenteuer Bowser leidet das Reptil an einer ominösen Krankheit und beginnt damit, unkontrolliert Röhren, Blöcke und gar Bewohner des Pilz-Königreiches einzusaugen. Während zu den eingesaugten Personen auch Mario und sein ängstlicher Bruder Luigi gehören und im wörtlichen Sinne Bowsers Innenleben erkunden, muss Bowser Übeltäter Krankfried aus seinem Schloss vertreiben. Hierbei dürfte es sich wohl zugleich auch um die größte Rolle von Bowser als Protagonist handeln, schließlich nehmen sämtliche Bowser-Abschnitte ungefähr die Hälfte der auf dreißig bis vierzig Stunden angelegten Spielzeit ein.
Dennoch werden Mario und Luigi absolut nicht vergessen, das Spiel ist ohne die Hilfe der beiden Klempner definitiv nicht zu meistern. Das passt auch ein wenig zu Bowsers trotteligem, aber doch liebevollem Charakter. Bis 2019 hat Nintendo allerdings nicht ein einziges Mal den Versuch gestartet, Bowser ein eigenes Spiel zu spendieren, in dem er auch die einzige Hauptrolle spielt. Es gab anhand von verschiedenen Spielen wie Mario & Luigi: Abenteuer Bowser immer mal wieder Lichtblicke, die allerdings an einer Hand abgezählt werden können. Da kann das Riesenreptil durchaus neidisch auf Luigi in Luigi’s Mansion und Peach in Super Princess Peach schielen. Aus Verbitterung kann und wird Bowser sehr wahrscheinlich die Rolle als Antagonist nicht so leicht verlieren.
Hausbesetzer Wario
Ganz anders sieht es hingegen bei Antagonist Wario aus. Dieser betrat erstmals im Jahr 1992 auf dem Game Boy im Genre-Klassiker Super Mario Land 2: 6 Golden Coins die Bühne. Als Held Mario von seinem Abenteuer in Super Mario Land nach Hause zurückkehrt, erfährt er, dass Wario sein Schloss erobert hat. Um diesen geldgierigen Bösewicht das Handwerk zu legen, muss Mario sechs Bossgegner in den letzten Winkeln der Spielwelt besiegen und die sechs titelgebenden Goldmünzen zurückgewinnen, um das Tor zu seinem einstigen Zuhause zu öffnen. Besitzt Mario diese Münzen nicht, bleiben die Tore seiner Festung verschlossen.
Bedrohlich und hämisch grinsend läuft Wario auf den Zinnen bei Blitzgewitter hin und her, wodurch einmal mehr deutlich wird, dass dem neuen Feind das Handwerk gelegt werden muss. Ist die Burg aber erst einmal geöffnet und die letzten Hindernisse genommen, wird im Thronsaal der Showdown eingeleitet. Dort versucht Wario den Helden mit seinen eigenen Waffen zu schlagen und nutzt neben Sprungattacken mit Häschenohren und Feuerbällen zugleich die beiden Verwandlungsformen des Spiels. Nach dem Sieg schrumpft Wario ähnlich wie Mario auf eine kleine Größe und rennt schreiend aus dem Gebäude, womit Nintendo bereits 1992 Warios visuelle Abwandlung bei direktem Feindkontakt begründet hat. Warum Mario damals allerdings scheinbar ein Monarch war, weiß vermutlich nur sein Schöpfer Shigeru Miyamoto.
Geldgieriger Protagonist
Bevor Wario seine überraschend langjährige Karriere als Protagonist beginnen konnte, hat er seinem Kontrahenten Mario 1993 im exklusiv in Japan erhältlichen Super-Nintendo-Titel Mario & Wario noch ein paar Steine in den Weg geschmissen. Sämtliche Levels im Spiel beginnen damit, dass Mario einen Eimer über den Kopf gestülpt bekommt, er daraufhin unkontrolliert losläuft und eine Fee, die über die Maussteuerung der 16-Bit-Konsole kontrolliert wird, ihm den Weg ebnen muss. Die Retourkutsche fällt am Ende des Spiels aber vergleichsweise harmlos aus, denn hier stülpt Mario einfach nur Wario einen Eimer über den Kopf. Viel humorvoller ist die ebenfalls sehr kurze Auseinandersetzung der beiden Charaktere am Ende von Wario Land: Super Mario Land 3 für den Game Boy.
Die Brown-Sugar-Piraten haben die Goldstatue von Prinzessin Peach gestohlen – und da Wario nach dem Ende von Super Mario Land 2 wieder pleite ist, will er Mario zuvorkommen, die goldene Peach-Statue vor ihm finden und zu barer Münze machen. Auf Kitchen Island macht Wario erstmals als spielbarer Protagonist Jagd auf die Piraten und die Schätze, die diese überall kreuz und quer versteckt haben. Nach dem Endkampf gegen Captain Syrup beziehungsweise ihrem Lampengeist ist die Freude über die güldene Figur jedoch von kurzer Dauer, Mario lässt sie mit seinem kleinen Propellerflugzeug schlicht abtransportieren. Immerhin bleiben Wario am Ende die Schätze und der Lampengeist.
Verzweifelt gesuchter Held
Nach kurzen Abwegen in Spielen wie dem 1994 veröffentlichten Wario’s Woods für das NES und Wario Blast: Featuring Bomberman! für den Game Boy, dauerte es nicht lange, bis Wario das Jump-’n’-Run-Genre 1995 zunächst in Virtual Boy Wario Land und dann 1998 ein weiteres Mal in Wario Land II auf dem Game Boy unsicher machen konnte. Das war aber tatsächlich nur der Anfang von Warios Karriere, die im Gegensatz zu Donkey Kong und Bowser steil bergauf ging. In den Jahren 2000 und 2001 folgten bereits der dritte und vierte Teil der Reihe für Game Boy Color und Game Boy Advance. 2003 durfte Wario dann auch tatsächlich die dritte Dimension in Wario World für den GameCube erkunden; eine Ehre, die bis heute nicht jedem Videospielhelden vergönnt war.
Mit dem 2007 veröffentlichten Wario: Master of Disguise versuchte Nintendo auf dem gut gereiften DS an die alten Erfolge der Serie anzuknüpfen, die Meinungen der Fachpresse fielen hier aber eher negativ aus. Sehr viel positiver steht es um den 2008 für die Wii veröffentlichten Wario: The Shake Dimension. Obwohl Warios Karriere als Protagonist durchaus vielversprechend war, schien Nintendo kein Interesse mehr daran zu haben, Wario in Jump ’n’ Runs zu zwängen. Stattdessen konzentrierte sich der Konzern auf die WarioWare-Reihe, die zwischen 2003 und 2018 auf ganze acht Titel kam. Zwar dreht sich die Story bei diesen Mikrospielsammlungen irgendwie um Wario, als spielbarer Protagonist tritt er hier aber nicht wirklich in Erscheinung.
Kleine Feinde einmal ganz groß
Neben Donkey Kong, Bowser und Wario gibt es noch weitere Charaktere, die ursprünglich als Antagonist von Entwicklern ausgedacht wurden und nach langem Hin und Her dennoch den Absprung geschafft haben. König Nickerchen, den die meisten heute eher als König Dedede aus der Kirby-Reihe kennen dürften, taucht in diversen Spielen des Franchises am Rande immer mal wieder als spielbarer Charakter auf. Selbiges trifft auch auf Kirbys anderen Rivalen Meta-Knight zu, für den häufig ganze Kampagnen leicht bis stark abgewandelt in dem einen oder anderen Serienableger integriert werden. Besondere Erwähnung sollte hier unbedingt Kirby’s Adventure Wii aus dem Jahr 2011 finden, denn hier können bis zu vier Spieler gleichzeitig mit Kirby, König Dedede, Meta-Knight und sogar dem einstigen Standardgegner Waddle Dee das Dream Land retten.
Es müssen also nicht immer die größten Gegner sein, denen auf einmal eine neue Ehre zuteil wird. Beispielsweise tauchen in der Ghosts’n-Goblins-Reihe Red Arremer genannte Gargoyles auf, von denen einer unter dem Pseudonym Firebrand 1990 in Gargoyle’s Quest für den Game Boy, 1992 in Gargoyle’s Quest II auf dem NES und zuletzt 1994 in Demon’s Crest auf dem Super Nintendo zum Protagonisten gemacht wurde. Die letzten Beispiele zeigen deutlich, dass theoretisch und sogar praktisch aus jedem Feind ein Held werden kann und diskussionswürdige Ideale wie Gut und Böse nur so lange nicht hinterfragt werden, bis diese Rollen um 180 Grad gedreht und völlig anders beleuchtet werden.
Geschrieben von Eric Ebelt