Dungeon Crawler: 3D-Kerker-Abenteuer gestern und heute – SPECIAL
3D-Dungeon-Crawler sind wohl die klassischste Form des digitalen Rollenspiels, lassen sich doch ihre Wurzeln bis in die 1970er Jahre zurückverfolgen. Genre-Urgesteine aus den USA wie Wizardry und Dungeon Master erfreuten sich auch in Japan großer Beliebtheit und begründeten das Genre des japanischen Rollenspiels. Obwohl das Interesse an 3D-Dungeon-Crawlern in der westlichen Welt Ende der 1990er-Jahre stark nachließ, hält die Begeisterung im fernen Osten bis heute ungebrochen an. Ein Grund für uns, der Faszination dieses Genres einmal genauer auf den Grund zu gehen.
Ein „Dungeon“ bezeichnet im Rollenspiel-Jargon ein oftmals komplexes Labyrinth voller Monster, Schätze und Fallen, durch das sich die vom Spieler gesteuerten Charaktere kämpfen müssen. Obwohl „Dungeon“ wörtlich übersetzt eigentlich „Verlies“ bedeutet, gibt es sowohl in Pen-and-Paper- als auch in digitalen Rollenspielen keine Beschränkungen dafür, was ein Dungeon sein kann. Von unterirdischen Strukturen wie Katakomben oder Höhlen über Burgen und Türme bis hin zu Wäldern kann alles als Dungeon herhalten. Dungeon Crawler sind ein spezielles Sub-Genre des Rollenspiels, das seinen Fokus auf das Bezwingen dieser Labyrinthe setzt. Während andere Rollenspiele mit einer riesigen Welt mit dutzenden Dörfern, Städten und Dungeons aufwarten, besteht der klassische Dungeon Crawler aus gerade einmal einem Dorf und einem oftmals gigantischen Labyrinth, das es zu erforschen gilt. Auch die Charaktere werden in den Urgesteinen des Genres vom Spieler erschaffen und wie in der Pen-and-Paper-Vorlage ausgewürfelt. Mit Leben gefüllt werden die Protagonisten lediglich durch die Vorstellungskraft des Spielers, denn die Story ist in den klassischen Dungeon Crawlern meist recht simpel und besteht oftmals nur darin, einen fiesen Bösewicht in den Tiefen des Kerkers zu bezwingen. In den traditionellen Genre-Vertretern bewegen wir uns dabei Schritt für Schritt vorwärts und können uns immer um 90 Grad drehen. Um in den labyrinthartigen Gewölben den Überblick zu behalten, sind wir auf eine Karte angewiesen. Diese musste in der Vorzeit des Genres noch mühsam per Hand auf ein Karo-Papier gezeichnet werden, bis sich das so genannte Automapping durchsetzte; ein Feature, bei dem die Karte automatisch mitgezeichnet wird und heute in fast allen Dungeon Crawlern verwendet wird.
Duch Spiele wie Shin Megami Tensei: Strange Journey, die Etrian-Odyssey-Serie, Labyrinth of Refrain: Coven of Dusk oder die Mary-Skelter-Serie konnte sich auch außerhalb Japans eine kleine, aber eingeschworene Fangemeinde des Genres etablieren. Diese kann sich immer wieder auf stetigen Nachschub aus Fernost freuen, und auch wenn schon mal ein Jahr zwischen den Releases vergeht, ist das Genre glücklicherweise einfach nicht totzukriegen. Um die Faszination, die Dungeon Crawler auch heute noch ausüben zu verstehen werden wir uns aber zunächst den Ursprüngen des Genres widmen. Dazu müssen wir zunächst über vierzig Jahre in die Vergangenheit reisen.
Die Vorzeit der Dungeon Crawler und ihr Erfolg in Japan
Die Geschichte der Dungeon Crawler, beziehungsweise des gesamten Rollenspiel-Genres begann in den 1970er Jahren an Universitäten in den USA. Im Jahre 1975 lud der Student Reginald „Rusty“ Rutherford, ein passionierter Dungeons & Dragons Spieler, sein vom Pen-and-Paper Vorbild inspiriertes Computerspiel „pedit5“ auf einen Großrechner vom Typ PLATO der Universität von Illinois hoch. Benannt war das Spiel nach einem freien Programmslot auf dem PLATO-Rechner und bot ein reinrassiges Dungeon-Crawler-Erlebnis, bei der der Spieler seinen Charakter durch ein zufällig generiertes, monsterverseuchtes Labyrinth steuerte. Mitte bis Ende der 1970er Jahre machten weitere Dungeon Crawler an Universitäten von sich reden, und das, obwohl sie regelmäßig vom Personal gelöscht wurden. Spiele wie Dungeon, Oubliette und Moria konnten die Spielmechaniken der jeweiligen Vorgänger konsequent weiterentwickeln, dabei eigene Ideen einbringen und sorgten dabei für begeisterte Studenten und verärgerte Professoren.
Als Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre die Heimcomputer immer beliebter und weiter verbreitet wurden, schafften die Dungeon Crawler schließlich den Sprung von Universitäts-Rechnern in die Wohnungen der Spieler. Einer der Vorreiter war dabei Richard „Lord British“ Garriott, der später durch seine berühmte Ultima-Serie eine Ikone der Spiele-Entwickler-Szene wurde. Noch vor Ultima entwickelte er mit Akalabeth: World of Doom den ersten kommerziell erfolgreichen Dungeon Crawler.
Im Jahr 1981 erschien mit Wizardry: Proving Grounds of the Mad Overlord ein weiterer Dungeon-Crawler-Meilenstein. Die Wizardry-Serie begann als Hobby-Projekt zweier Studenten der Cornell Universität, Andrew Greenberg und Robert Woodhead. Robert Woodhead studierte Psychologie, als er die Gaming-Szene betrat und ein Programm mit dem Namen „Sorcery“ auf die PLATO Rechner hochlud. Woodhead und Greeenberg trafen sich das erste Mal im Jahre 1980 und arbeiteten dann beide an dem Hobby-Projekt weiter. Ihre Zusammenarbeit war aber wohl nicht immer harmonisch, es entstand sogar eine Art Rivalität, die dem ehrgeizigen Projekt aber keinen Abbruch tat. Vielleicht sogar deswegen nahm Wizardry Gestalt an und wurde im November 1980 das erste Mal öffentlich in New York gezeigt. Wizardry war nach seinem Erscheinen ein großer Erfolg, und es folgten zunächst zwei Fortsetzungen, die nur dann gespielt werden konnten, wenn Spieler den ersten Teil komplett durchspielten. Insgesamt brachte es die Serie im Westen auf acht Teile.
Wizardry erreichte Mitte der 1980er Jahre Japan und schlug dort ein wie eine Bombe. Es dauerte bei der allgemeinen Begeisterung um die Spiele nicht lange, da erschienen die ersten japanischen Rollenspiele, die sich von Wizardry und Ultima inspirieren ließen. Der größte Einfluss auf die japanische Spiele-Industrie waren jedoch nicht diese unzähligen ähnlichen Spiele, die bald folgten, sondern eine neue Art von Spiele-Genre, das eine Mischung aus Ultima und Wizardry darstellte und einige Genereationen später als JRPG, also Japanisches Rollenspiel bekannt werden sollte. Die beiden jungen Programmierer der Spielefirma Enix, Koichi Nakamura und Yūji Horii waren begeisterte Wizardry-Fans, die das Spiel zum ersten Mal sahen, als sie 1983 einen Programmier-Wettbewerb gewannen und nach San Francisco reisten um das Applefest zu besuchen. Sie nahmen die Vogelperspektive von Ultima und verbanden sie mit Wizardrys Menü-basiertem Kampfsystem und erschufen Dragon Quest. Doch dies ist eine andere Geschichte.
Japanische Kerker-Abenteuer: Der Sprung auf die Konsole
Die ersten Dungeon Crawler, welche auf Konsolen erschienen, waren zunächst Umsetzungen der beliebten Wizardry-Teile, die es jedoch alle nicht aus Japan herausschafften. Hierzu muss allerdings gesagt werden, dass das Rollenspiel-Genre zu jener Zeit von Konsolen-Herstellern im Westen noch recht stiefmütterlich behandelt wurde, weshalb es die meisten in Japan sehr beliebten Dungeon Crawler erst gar nicht in den Westen schafften. Während in der westlichen Welt Dungeon Crawler auf Heimcomputern durch Spiele-Reihen wie The Bard’s Tale, Might and Magic, Lands of Lore oder Eye of the Beholder durch die 1990er Jahre weit verbreitet waren, sah das auf Konsolen in den späten 1980ern und frühen 1990er Jahren noch ganz anders aus. Das erste japanische Rollenspiel, das Dungeons in der klassischen 3D-Perspektive bot und im Westen erschien, war das von SEGA für das Master System entwickelte und im Jahr 1987 erschienene Phantasy Star. Zwar kein reiner Dungeon Crawler, bot das revolutionäre Science-Fiction-Rollenspiel aber trotzdem umfangreiche 3D-Labyrinthe in flotter und flüssig scrollender Grafik. Für die Switch wurde Phantasy Star im Jahr 2018 mit vielen komfortablen Zusatzfunktionen in der SEGA Ages-Reihe neu aufgelegt.
Der erste Dungeon Crawler, der in den USA auf dem SNES erschien, war Arcana. Das von HAL Laboratories im Jahr 1992 für das SNES entwickelte Rollenspiel war eines der ersten ins Englische übersetzten Rollenspiele für das System überhaupt. Zwar ist das Spiel aus heutiger Sicht durch die häufigen Zufallskämpfe und die etwas konventionelle Fantasy-Geschichte vielleicht etwas altbacken, aber durch die ansprechende Grafik und die sehr atmosphärische Musik ist das einzige Rollenspiel der Kirby-Erfinder auch heute noch einen Blick wert. Gleiches gilt für das im Jahr 1991 für das Mega Drive erschienene Shining in the Darkness, das mit einer farbenfrohen Comic-Grafik, flüssig scrollenden Dungeons und komfortablen Icon-basierten Benutzerführung schon bei seinem Erscheinen Kritiker und Spieler gleichermaßen begeistern konnte. Das Spiel legte zudem den Grundstein für die bekannte Shining-Serie, die zwar mit dem direkten Nachfolger Shining Force spielerisch einen ganz anderen Weg einschlug, aber im Jahr 1996 mit Shining the Holy Ark auf dem Sega Saturn wieder zu den Dungeon-Crawler-Wurzeln zurückkehrte. Heute ist Shining in the Darkness auf der SEGA Mega Drive Classics Spielesammlung für die Switch und der Mega Drive Mini Konsole enthalten sowie in der Virtual Console herunterladbar.
Ende der 1990er Jahre nahm das Interesse an Dungeon Crawlern in der westlichen Welt jedoch immer weiter ab. Im Jahr 2001 erschien mit Wizardry 8 der letzte in den USA entwickelte Teil der Serie, ein paar Monate nachdem der Publisher Sir-Tech Insolvenz anmeldete. Obwohl Wizardry damit im Westen keine Bedeutung mehr hatte, blieb die Serie in Japan noch über lange Zeit präsent und bekam immer wieder neue Teile für die verschiedensten Systeme spendiert. Dazu zählen zum Beispiel auch drei Teile für den GameBoy, zwei für den GameBoy Color, einer für das Super Famicom und einer für den GameBoy Advance. Bis 2017 erschienen insgesamt 39 Spin-Off-Teile der Serie, von denen es vier sogar in den Westen schafften.
Etrian Odyssey und die Kunst des Kartenzeichnens
Mit dem Release von Etrian Odyssey für den Nintendo DS im Jahr 2007 konnte Hersteller Atlus quasi das gesamte Genre wieder beleben. Während es Anfang der 2000er außer Wizardry: Tale of the Forsaken Land für die PlayStation 2 eigentlich kein Dungeon Crawler aus Japan herausschaffte und sich auch die Shin-Megami-Tensei-Serie von ihren 3D-Dungeon-Crawler-Wurzeln verabschiedete, konnte Atlus mit Etrian Odyssey ein ganz neues Publikum erreichen. Abgesehen von den Manga-Illustrationen der Charakerklassen holte das Spiel den Crawler aus den unterirdischen Gewölben heraus und setzte auf Dungeons in natürlichen, farbenfrohen Umgebungen. Der japanische Name des Spiels lautet Sekaiju no Meikyū, was übersetzt etwa soviel heißt wie „Labyrinth des Weltenbaumes“, und der Name ist hier durchaus Programm. In Etrian Odyssey führt unsere Reise statt durch düstere Katakomben und tiefe Kerker mit tristem Mauerwerk hauptsächlich durch mystische Wälder, tiefe Dschungel und überwucherte Ruinen.
Das Spiel nutzt dabei geschickt den Touchscreen des Nintendo DS und fordert uns auf, die Karte des Dungeons mit dem Stylus nachzuzeichnen. Dieses Gimmick erinnert bewusst an die alte Zeit, bevor Automapping zum Standard wurde, als die Karten noch in mühevoller Kleinarbeit auf Karopapier selbst gezeichnet werden mussten und wir uns als Hobby-Kartographen betätigen mussten, um überhaupt einen Überblick in den verschlungenen Wäldern zu bekommen. Das Kartenzeichnen ist ein integraler Bestandteil des Spielerlebnisses der Etrian-Odyssey-Reihe und wurde von Spiel zu Spiel immer weiter verfeinert und komfortabler.
Insgesamt brachte es die Etrian-Odyssey-Serie auf zehn Spiele (sechs Teile der Hauptserie, zwei Remakes und zwei Spin-Offs) für den Nintendo DS und 3DS, von denen es immerhin neun auch in die USA und sieben bis nach Europa schafften. Mit dem Erscheinen von Etrian Odyssey Nexus Im Jahr 2018 in Japan und 2019 in den USA und Europa war es dann erst einmal mit der Spielereihe vorbei. Der Nintendo 3DS wurde 2020 eingestellt und ließ damit auch die Zukunft der Dungeon-Crawler-Reihe sehr ungewiss aussehen. Durch das Wegfallen des zweiten Bildschirms bei der Switch müsste sich die Serie für einen neuen Teil definitiv neu ausrichten und statt dem Kartenzeichnen ein anderes Gimmick bieten. Wir hoffen aber inständig, dass Atlus bereits an einem Neustart der Etrian-Odyssey-Reihe arbeitet und wir wieder das Labyrinth des Weltenbaumes erforschen dürfen.
Moderne Dungeon Crawler: Die ungebrochene Faszination der Kerker-Kloppereien
Aber auch jenseits der Etrian-Odyssey-Reihe erscheinen in regelmäßigen Abständen bis heute immer wieder neue Vertreter des Genres, von denen es die Meisten sogar bis nach Europa schaffen, wenn auch manchmal mit längeren Wartezeiten. Dies liegt aber sicherlich unter anderem daran, dass moderne Dungeon Crawler immer häufiger ihren Fokus auf die Story setzen und dabei mitunter schon fast zu halben Visual Novels mutieren. Daneben experimentieren sie aber auch immer wieder mit alten Genre-Konventionen, werfen diese über den Haufen oder warten mit interessanten und ungewöhnlichen Szenarien auf, die weit weg sind von den üblichen mittelalterlichen Fantasy-Welten.
In Shin Megami Tensei: Strange Journey, das 2009 auf dem Nintendo DS und später auf dem 3DS erschien, schlüpfen wir beispielsweise in die Rolle eines Mitgliedes einer internationalen Spezialeinheit in der nahen Zukunft, welche die Apokalypse, ausgelöst durch das Auftauchen eines Tores in eine andere Dimension, zu verhindern sucht. In dem in vielerlei Hinsicht ungewöhnlichen Kowloon Highschool Chronicle, das 2021 auf der Switch erschien, übernehmen wir die Rolle eines jugendlichen Schatzjägers, der gemeinsam mit Klassenkameraden die geheimnisvollen Ruinen unter seiner Schule erforscht. Wer mehr auf Horror steht, kann in der Mary-Skelter-Trilogie, dessen bisher letzter Teil Mary Skelter Finale im letzten Jahr unter anderem auf der Switch erschien in der Rolle der Blood Maidens, die allesamt Manga-Neuinterpretationen bekannter Märchenfiguren darstellen, gegen groteske Alptraumwesen kämpfen und versuchen, aus einem lebenden Dungeon, dem Jail, zu entkommen. Etwas klassischer aber ähnlich düster geht es in Labyrinth of Refrain: Coven of Dusk von Nippon Ichi zu. Hier steuern wir eine verlorene Seele, die in einem Buch gefangen ist, und im Auftrag einer Hexe eine Gruppe von lebenden Puppen durch ein für Menschen lebensfeindliches Dungeon lotst. Der Nachfolger, Labyrinth of Galleria: The Moon Society erscheint Anfang des nächsten Jahres mit zweijähriger Verspätung unter anderem auf der Switch und wird von Fans des Genres bereits sehnsüchtig erwartet.
Alle diese Spiele zeigen unserer Meinung nach, wie viel Potenzial noch in dem alteingesessenen Rollenspiel-Sub-Genre steckt. Es macht einfach heute wie vor zwanzig oder dreißig Jahren Spaß, die verwinkelten Labyrinthe Stück für Stück zu erforschen, seine Charaktere aufzubessern und immer neue Monster und Schätze in den Tiefen der Dungeons zu finden. Dungeon Crawler reduzieren das Rollenspiel auf das Wesentliche und erlauben meistens eine viel freiere und detailliertere Entwicklung der eigenen Charaktere durch verschiedene Jobs und Charakterklassen als andere japanische Rollenspiele. Auch wenn 3D-Dungeon Crawler immer ein Nischen-Genre bleiben werden, so können die modernen Dungeon Crawler durch ihren Story-Fokus sicher auch einige Spieler jenseits der Hardcore-Zielgruppe für sich gewinnen. Wir sind auf jeden Fall sehr gespannt, was die Zukunft dieses Altehrwürdigen Genres noch bringen mag.
Geschrieben von Markus Schoenenborn